Mit einer Pferdestärke gen Westen

Zeitzeuge berichtet am HBG Bruchsal über Flucht und Armut nach Kriegsende

   Bruchsal (Be). Das Wort „Holzscheitelknien“ treibt so manchem älteren Menschen bis heute Angstschweiß auf die Stirn. Wer als Kind dieser Strafe ausgesetzt war, musste mit nackten Beinen auf der spitzen Kante eines Holzscheites knien und in religiösen Haushalten zudem laut beten. Auch Dr. phil. Hatto Zeidler hat diese Sanktionsmethode als Kind erlebt, und man spürt selbst mehr als sieben Jahrzehnte später, wie tief sich diese Erfahrung eingeprägt hat. Der langjährige Dozent der Pädagogischen Hochschule Heidelberg hat im und nach dem Krieg vieles hautnah gesehen, gespürt, gehört und gerochen, was Nachgeborene nur aus Büchern oder dem Schulunterricht kennen. Unauslöschlich eingebrannt hat sich ihm vor allem die abenteuerliche Flucht vor der Roten Armee nach Eberbach am Neckar, wo seine siebenköpfige Familie als Flüchtlinge aus der heutigen Tschechischen Republik nach Kriegsende zunächst ein sehr entbehrungsreiches Leben in bitterer Armut führen musste. Von diesen harten Kindheitsjahren berichtete der 79-Jährige jetzt auf Einladung von Schulleiter Anton Schneider am Heisenberg-Gymnasium Bruchsal, wo er bei zwei Besuchen sowohl die neunten als auch die zehnten Klassen mit etlichen Anekdoten sowie Zeichnungen und Fotos in seinen Bann zog.
   Zeidler siedelte mit seinen Eltern als Einjähriger im Sommer 1939 von Wien ins böhmische Saaz an der Eger über, heute das tschechische Zatec. Dort drückte er auch die Schulbank, ehe das Kriegsende und das Vorrücken der Sowjetunion die Eltern, seine vier Geschwister und ihn am 8. Mai 1945 zu Flüchtlingen machten. Pforzheim war das Ziel. Doch was heute per Auto in gut fünf Stunden zu schaffen ist, glich damals einer Weltreise. Rund 500 Kilometer mit einem PS samt Pferdewagen und einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 km/Tag bedeutete eine wochenlange Tortur – vor allem für den kleinen Hatto, dem eine schwere Pferdeallergie samt Asthma das Leben zur Hölle machte. Endstation war letztlich Eberbach, wo Hatto Zeidler in einem Krankenhaus aufgepeppelt werden musste, während seine Familie eine Unterkunft suchte. „Ein alter Bootsschuppen, ein Kanuhaus zwischen Eberbach und Zwingenberg ohne Strom und fließendes Wasser, wurde für einige Jahre unser neues Zuhause“, berichtet Zeidler.
   Mucksmäuschenstill ist es in der Oberstufenbibliothek, als er von den Lebensumständen in fremder Umgebung erzählt, und manch ein Schüler dürfte bei seinen Schilderungen die Schicksale geflüchteter Menschen in der heutigen Zeit im Kopf gehabt haben, wie beispielsweise das des Syrers Adel Darouish, der ebenfalls schon am HBG Bruchsal zu Gast war. „Wir haben auf Stroh im Pferdewagen geschlafen, in voller Montur, da wir jederzeit damit rechnen mussten vertrieben zu werden“, so Zeidler. Dabei schlug ihnen auch im Alltag wenig Nächstenliebe entgegen. „Uns wurden alle Lederschuhe gestohlen – bis auf meine, da ich im Krankenhaus lag“, erinnert sich der studierte Pädagoge, Soziologe und Kunsthistoriker, der heute als freischaffender Bildhauer und Autor bei Maulbronn lebt. "Unser Vater musste dann aus Holz neue schnitzen!" Doch auch der Kampf ums Essen bleibt für Hatto Zeidler unvergessen. „Wir hatten eigentlich immer Hunger“, betont er, weshalb u.a. auch Brennnesseln als Nahrungsmittel herhalten mussten. Zudem habe man auf dem Schwarzmarkt mit Zigaretten gehandelt, um an Lebensmittel zu kommen, etwa an Zucker.
   Die Schülerinnen und Schüler des HBG zeigten sich vom Besuch des Zeitzeugen tief beeindruckt. Es sei hochinteressant gewesen „zu erfahren, wie die Flüchtlinge damals behandelt wurden“, meinte etwa der 15 Jahre alte Linus Sonnek, während beim ein Jahr älteren Luca Paseka insbesondere „die Emotionen während der Flucht in den Westen“ in Erinnerung  bleiben werden. „Aus schulischen Texten erfährt man so etwas einfach nicht“, erklärte der Zehntklässler. Silvan Schillo, 15 Jahre, gab zu, sich „vorher nicht ernsthaft darüber Gedanken gemacht (zu haben), in welchem Luxus wir heute leben!“ Wie sich Herr Zeidler selbst über gefundene Graupen riesig freuen konnte, habe ihn „sehr, sehr fasziniert und zum Nachdenken angeregt“.
   Schulleiter Anton Schneider hob die Bedeutung eines solchen Zeitzeugenberichts für den Lernerfolg der Jugendlichen hervor. Zerstörung, Flucht und Vertreibung sowie physische und psychische Not am Ende des Zweiten Weltkriegs seien Gegenstand des Geschichts- und Migration sowie Integration im Fokus des  Politikunterrichts in der Mittelstufe. „Und all diese Themen hat Herr Zeidler auf mitreißende Art und Weise miteinander verknüpft - das schafft kein Lehrwerk!“, so Schneider. Dr. Zeidler habe gezeigt, dass man „sich nicht unterkriegen lassen darf und selbst aus widrigsten Umständen noch eine positive Zukunft entstehen kann.“  
   Nähere Informationen sowie Möglichkeiten der Kontaktaufnahme finden Interessierte unter www.bildhauer-zeidler.de. Zeidlers autobiographisches Buch „Das Kanuhaus – Erlebnisse einer Flüchtlingsfamilie“, erschienen im Silberburg-Verlag, ist im Handel erhältlich.

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Mit Originalbildern und Zeichnungen schilderte Dr. phil. Hatto Zeidler am HBG Bruchsal seine Erlebnisse...

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... und las Passagen aus seinem autobiographischen Werk "Das Kanuhaus" vor

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Das "Kanuhaus" im Original

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Hatto Zeidler als Kind (rechts) mit seinem großen Bruder

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Schulleiter Anton Schneider (rechts) dankte dem Zeitzeugen für sein Kommen

 
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