Das Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos

Europa als Albtraum

   Bruchsal (Be). Einen belastenden „Lagerkoller“ in begrenzter Umgebung und mit den immer gleichen Personen erlebten in Corona-Zeiten viele Menschen in Europa. Um Lebensmittel, frisches (Trink-)Wasser, Energieversorgung oder Abfallentsorgung musste sich hingegen kaum jemand Gedanken machen. Ganz anders stellt sich die Situation im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos dar. Zehntausende Geflüchtete sind dort aufgrund der europäischen Asylpolitik zum Teil seit Jahren gestrandet und haben wegen der strikten Ausgangsbeschränkungen zur Pandemieeindämmung seit März de facto keinen Kontakt mehr zur Außenwelt. Die Zustände sind katastrophaler denn je, zumal Hilfsorganisationen momentan aufgrund von Grenzschließungen und eingestellter Flugverbindungen kaum ihrer Arbeit nachgehen können. Über diese dramatische Entwicklung berichtete Claus Kittsteiner vom Verein „Respekt für Griechenland“ Stipendiatinnen und Stipendiaten sowie Alumni des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Kittsteiner besuchte vor vier Jahren das Heisenberg-Gymnasium Bruchsal (HBG) und folgte jetzt der Einladung des DAAD-Freundeskreises Rhein-Neckar, einem Kooperationspartner des HBG.
    Einst selbst Kriegsflüchtling und seit Jahrzehnten ehrenamtlich in der Entwicklungs-, Bildungs- und Friedenspolitik aktiv, ist er seit 2015 regelmäßig vor Ort und hat in dieser Zeit insgesamt zwei Jahre auf Lesbos verbracht. Entsprechend beeindruckend waren das Bildmaterial und die Anekdoten, die der 77 Jahre alte Historiker den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Ländern wie Brasilien, Venezuela, dem Sudan, Serbien, der Türkei oder Nepal präsentierte. Von dramatischen Rettungsaktionen auf hoher See über den chaotischen Empfang überfüllter Schlauchboote und die Versorgung mit dem Nötigsten an Land bis hin zu den desaströsen Lebensumständen im eigentlich nur für wenige Tausend Bewohner ausgelegten Lager Moria und den angrenzenden Olivenhainen: Kittsteiner zeigte bei dem Onlinetreeffen auf, was sich wirklich im Südosten Griechenlands abspielt und welche menschlichen Schicksale sich hinter den oft kurzen und auf Zahlen fixierten Meldungen in Nachrichtensendungen verbergen. „Die Geflüchteten leben in Matsch und Müll – und im Winter auch noch mitten im Schnee“, so der Menschenrechtsaktivist aus Überlingen, der am Bodensee aufwuchs, danach aber viele Jahre in Berlin verbrachte.
    Als die Zahl der Migrantinnen und Migranten vor allem wegen der Kriegswirren in Syrien 2015 stark anstieg, startete Kittsteiner mit seinem Verein die spendenbasierte Initiative „Volunteers for Lesbos“, die sich seither intensiv um die Verbesserung der Lage vor Ort kümmert, der momentan jedoch coronabedingt die Hände gebunden sind. „Ob bürokratische Hilfen, Trinkwassertransporte oder der Aufbau eigens angeschaffter Zelte – wir tun, was wir können, und entlasten damit die völlig überforderten Behörden vor Ort“, erzählt der frühere Gymnasiallehrer. Die Hilfe sei dringend erforderlich. Ein Wasserhahn im Lager Moria versorge ansonsten rund 250 Menschen und die oft notdürftig errichteten Behausungen hielten den häufigen Regenfällen und Stürmen gerade im Winter kaum stand. Kittsteiner schüttelt beim Gedanken an das Erlebte und Gesehene nur den Kopf: „Wenn ich dort bin, frage ich mich immer wieder: Wie schafft es Europa, so etwas zuzulassen?“
    In der anschließenden Diskussion mit den Studierenden, Doktoranden, Professorinnen und Professoren aus aller Welt ging es unter anderem um die Ursachen dieser Entwicklung, neben gewalttätigen Konflikten etwa Globalisierungseffekte oder der Erfolg rechtsextremer Parteien und die damit verbundene abschottende EU-Flüchtlingspolitik. Insbesondere das Vorgehen europäischer Regierungen, die ansonsten gerne Menschenrechte hochhalten und diesbezüglich anderen Ländern bisweilen sogar Nachhilfe zu geben scheinen, wurde sehr kritisch besprochen. „Und uns Nichtregierungsorganisationen lässt man die Scherben dieser Politik aufkehren!“, unterstrich Kittsteiner. Doch Europa sei hier kein Einzelfall, gebe es derzeit doch knapp 80 Millionen Flüchtlinge, verteilt auf alle Kontinente. Entsprechend sei ein ganzheitlicher Ansatz, vom Stopp der Ausbeutung ärmerer Länder bis hin zur Bekämpfung des Klimawandels, wichtig. Jeder Mensch, egal wo, könne hierzu einen Beitrag leisten. „Es gibt genügend Initiativen und Vereine weltweit – man muss nur hingehen und mitmachen,“ lautete Kittsteiners Appell. Sein Fazit: „Wir sind alle gefragt!“

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Fotos: Kittsteiner

 
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